8.13. Lineare Differentialgleichungen höherer Ordnung
Die Untersuchung linearer Differentialgleichungen einer beliebigen Ordnung im Reellen ist technisch unangemessen aufwändig. Dies zeigte sich in Ansätzen schon bei den Gleichungen 2. Ordnung im vorherigen Abschnitt. Interessanterweise ist der Aufwand im Komplexen deutlich niedriger, so dass eine Betrachtung im Komplexen angebracht ist.
Grundlage sind jetzt also die komplexen Zahlen , deren identische Funktion wir mit dem Symbol Z bezeichen.
Die Differentialrechnung in verläuft in weiten Strecken parallel zu der in . Insbesondere gelten hier diesselben Ableitungsregeln. Eine Besonderheit betrifft allerdings die Differenzierbarkeitsgüte: Komplex differenzierbare Funktionen sind bereits analytisch und damit sofort beliebig oft differenzierbar. Für die Menge der analytischen Funktionen auf benutzen wir das Symbol .
In diesem Abschnitt werden wir überdies konsequent die Sprache der linearen Algebra einsetzen, also z.B. den Erzeugnisbegriff
i |
So steht etwa das Symbol
für die Menge aller Linearkombinationen der Funktionen , dem Erzeugnis von . Also:
.
selbst nennen wir die Erzeuger von .
Erzeugnisse sind stets Untervektorräume. Für ihre Dimension gilt:
|
verwenden und die Differentialgleichungen über Operatoren beschreiben. Dabei ordnen wir durch die Festsetzung
jedem Polynom den Differentialoperator zu. Es ist üblich und mit keinen Einschränkungen verbunden, sich auf normierte Polynome, also den Fall zu beschränken. Ist eine analytische Funktion, so nennen wir dann die Gleichung
eine (normierte) lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten (über ).
Wir beginnen unsere Untersuchungen mit einigen Rechenregeln und stellen zunächst fest, dass linear im Argument ist.
Bemerkung: Sei
. Dann gilt für alle , :
-
.
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[8.13.1] |
-
.
|
[8.13.2] |
Beweis:
1. ► Die Behauptung ergibt sich direkt mit der Faktorregel:
.
2. ► Und hier mit der Summenregel:
.
|
Über die Spezialfälle und erhält man mit 1. und 2. natürlich auch:
.
ist auch linear im Index.
Bemerkung: Ist und , so hat man für alle und :
-
, also: .
|
[8.13.3] |
-
, also: .
|
[8.13.4] |
Beweis:
1. ► Mit errechnet man:
.
2. ► Ohne Einschränkung nehmen wir an und führen im Fall zusätzlich die Koeffizienten ein. Dann ist und wir haben somit:
.
|
Wie zuvor erhält man durch Spezialisieren weitere Eigenschaften. Für , und etwa ergibt sich hier:
.
Die folgende Verträglichkeitsregel zwischen der Multiplikation von Polynomen und der Hintereinanderausführung von Funktionen wird für unsere weiteren Überlegungen entscheidend sein.
Bemerkung: Sei und . Dann gilt für alle :
, d.h.:
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[8.13.5] |
Beweis: Sei zunächst ein Monom. Dann ist
und wir erhalten für jedes :
.
Sei nun r beliebig, also . Neben dem gerade bewiesenen Spezialfall nutzen wir jetzt die Indexlinearität [8.13.3/4] und errechnen:
.
|
Beachte: Da , hat man hier: .
Nun zurück zu den eigentlichen Differentialgleichungen. Wie schon zuvor kommt dem Kern des Operators eine Schlüsselrolle zu. Wir betrachten zunächst Operatoren des Typs
, das zugehörige Polynom ist also die Linearfaktorpotenz , und beginnen mit ein wenig Technik:
Bemerkung: Für alle und gilt:
-
.
|
[8.13.6] |
-
.
|
[8.13.7] |
Beweis: In beiden Fällen führen wir einen Induktionsbeweis.
1. ► .
2. ► .
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Wir können nun ein erstes Ergebnis notieren: Der Kern des Operators wird bereits von n vielen, einfach strukturierten Funktionen erzeugt.
Bemerkung: Für jedes ist
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[8.13.8] |
Beweis: Wir weisen zwei Inklusionen nach und beginnen mit "". Dazu berechnen wir zunächst mit Hilfe von [8.13.6] für ein beliebiges (beachte dabei auch [8.13.5]):
und haben damit für alle :
,
so dass wegen der Linearität von die Inklusion "" gesichert ist.
Den Nachweis der zweiten Teilmengenbeziehung "" beginnen wir mit der folgenden Aussage:
Ist , so gibt es ein , so dass
[1]
Beweis: Sei . Mit hat man dann: und
.
Per Induktion zeigen wir jetzt für ein beliebiges :
für alle .
Sei . Analytische Funktionen auf (einem
Gebiet
i |
Unter einem Gebiet in versteht man eine offene und zusammenhängende Teilmenge von . Offen und zusammenhängend sind Begriffe aus der Topologie.
|
also) haben ähnliche Eigenschaften wie differenzierbare Funktionen auf Intervallen. Insbesondere sind auch sie konstant, falls ihre Ableitung überall gleich Null ist. Wir können also wieder mit dem Trick aus [8.11.2] arbeiten und berechnen die Ableitung
f ist damit ein Vielfaches von , ein Element aus also.
Sei jetzt . Gemäß Induktionsvoraussetzung ist damit und mit [1] finden wir ein so dass . Da
ergibt sich aus dem Induktionsanfang: , also .
|
Als ein Beispiel betrachten wir etwa
.
Nach diesen Vorbereitungen gehen wir nun den Fall eines beliebigen Operators an. Nach dem Fundamentalsatz der Algebra dürfen wir uns ein normiertes Polynom r als das Produkt seiner Linearfaktorpotenzen vorstellen:
,
wobei die paarweise verschiedenen Nullstellen von r sind. In [8.13.8] haben wir die Kerne dieser Linearfaktorpotenzen ermittelt:
.
In ihrer Gesamtheit erzeugen sie nun den Kern von :
Bemerkung: Sei . Bezeichnet die Erzeugermenge von , so ist:
.
|
[8.13.9] |
Beweis: Den Fall , also , haben wir in [8.13.8] bereits erledigt, so dass wir annehmen dürfen.
Wir beginnen wieder mit der Inklusion "". Wegen der Linearität reicht es hier zu zeigen:
für jedes . Sei etwa . Da die Reihenfolge der Linearfaktoren ohne Bedeutung ist, dürfen wir setzen und haben damit:
.
Die zweite Inklusion "" zeigen wir durch Induktion über den Grad von r, d.h. über .
Hier ist , so dass dieser Fall mit [8.13.8] bereits vollständig erledigt ist:
.
Sei jetzt . Mit hat man also und damit:
,
d.h. , etwa . Wir unterscheiden nun zwei Fälle:
-
für alle i. Mit [8.13.7] errechnet man hier für die Funktion
, also . Die Differenz liegt damit im Kern von , nach Induktionsvoraussetzung also in , d.h.
.
-
für ein i, o.E. etwa , d.h. . Jetzt setzen wir
und errechnen mit [8.13.6/7] wieder: . Also gilt auch hier und daher haben wir wie zuvor:
.
|
So hat man z.B. für :
.
Wir ermitteln nun die (komplexe) Dimension.von .
Bemerkung: Für jedes Polynom vom Grad gilt:
.
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[8.13.10] |
Beweis: Wir verwenden die Notation aus [8.13.9]. Da genau viele Elemente enthält und die Erzeugermenge M die disjunkte Vereinigung der ist, wird von n vielen Funktionen erzeugt. Es reicht daher zu zeigen, dass die Menge M linear unabhängig ist. Sei dazu
eine beliebige Linearkombination von Funktionen aus M mit komplexen Koeffizienten . Wir zeigen jetzt für paarweise verschiedenen komplexe Zahlen :
, [2]
Den Beweis führen wir per Induktion über k. Mit [2] folgt dann die lineare Unabhängigkeit von M aus dem Identitätssatz für Polynome: für alle i,j.
Ist , so ist für alle z, denn stets.
Sei jetzt mit paarweise verschiedenen . Folgt:
. [3]
Für ist und da gemäß Leibnizregel [7.8.18]
,
ist von der Form . Da auch die Differenzen paarweise verschieden sind, hat man nach Induktionsvoraussetzung:
,
und da , liefert dies die Darstellung
,
die aber im Fall keinen Bestand haben kann, denn das Polynom rechts vom Gleichheitszeichen hat als Linearkombination gewisser Ableitungen von einen geringeren Grad als . Also ist konstant, folglich ist das rechte Polynom, und damit auch selbst, das Nullpolynom. Mit [3] schließlich hat man also:
.
|
Da unendlich viele Elemente enthält, ist die homogene Differentialgleichung nicht eindeutig lösbar. Im letzen Abschnitt konnten wir die Eindeutigkeit jedoch durch Setzen einer Anfangsbedingung erzwingen. Dies gelingt auch hier, allerdings sind jetzt die Ableitungen bis zur Ordnung betroffen. Zur Vorbereitung ordnen wir jeder Lösung f der homogenen Gleichung den Anfangsvektor bzgl. eines ausgewählten Punktes zu:
Summen- und Faktorregel garantieren dass eine lineare Abbildung, d.h. ein Homomorphismus ist. ist sogar ein Monomorphismus, denn wir können die
Injektivität
i |
Im allgemeinen heißt eine Funktion injektiv, falls verschiedene Elemente von A auch verschiedene Bilder in B erhalten:
für alle .
Ist f jedoch eine lineare Funktion zwischen zwei Vektorräumen, so ist dies bereits durch die Implikation
gewährleistet, denn gäbe es zwei Elemente in A so dass wäre, so hätte man
im Widerspruch zu .
|
von nachweisen.
Bemerkung:
ist injektiv.
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[8.13.11] |
Beweis: Wir zeigen für ein beliebiges : . Für eine -Funktion f mit hat man zunächst und damit für alle :
. [4]
Ist nun , also , so ergibt sich mit [4] über einen einfachen Induktionsbeweis: , insgesamt also:
für alle .
Da die analytische Funktion f durch ihre Taylorentwicklung darstellbar ist, folgt daraus sofort: .
|
Im Beweis zu [8.13.10] haben wir gezeigt, dass die Erzeugerfunktionen von , also die Elemente von (siehe [8.13.9]), linear unabhängig sind. Da eine injektive lineare Abbildung die lineare Unabhängigkeit erhält
i |
Sei linear und injektiv. Dann gilt für jede Sequenz in V:
linear unabhängig linear unabhängig.
Beweis: Ist , so folgt mit der Injektivität von L zunächst
,
damit nach Voraussetzung aber auch .
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, ist die Sequenz
für jedes b linear unabhängig. Damit aber ist die Wronski-Matrix
in jedem
regulär
i |
Eine quadratische Matrix M heißt regulär falls ihre Spaltenvektoren linear unabhängig sind.
Reguläre Matrizen besitzen eine inverse Matrix und zeichnen sich damit durch ihr Verhalten bei linearen Gleichungssystemen aus: Für jedes y ist die Gleichung
stets eindeutig lösbar.
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, denn die Spalten von sind genau die Vektoren .
Über die inverse Matrix gelingt nun der Nachweis der angestrebten Eindeutigkeitsaussage.
Bemerkung: Für jeden Vektor hat die homogene Differentialgleichung unter der Anfangsbedingung genau eine Lösung:
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[8.13.12] |
Die Koeffizienten sind dabei die eindeutigen Lösungen des Gleichungssystems , also die Koordinaten des Vektors .
Beweis: Da
i |
Man beachte, dass für eine Matrix M mit den Spaltenvektoren das Produkt berechnet werden kann indem man eine Linearkombination der Spaltenvektoren mit den Koordinaten von x als Koeffizienten bildet:
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, hat man sofort:
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Als ein Beispiel untersuchen wir die homogene Differentialgleichung
unter der Anfangsbedingung , und .
Mit betrachten wir also die Gleichung
.
Gemäß [8.13.9] ist , die Wronski-Matrix errechnet sich daher zu
.
Zum Einbinden der Anfangsbedingung benötigen wir die Matrix
und ihre inverse Matrix
Mit ergibt sich schließlich die folgende Lösung:
.
To be continued
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