7.8. Mehrfach differenzierbare Funktionen
Auf den ersten Blick scheint sich der Übergang vom lokalen zum globalen Aspekt der Differenzierbarkeit nur in einer kompakteren Schreibweise niederzuschlagen. Wenn man aber bedenkt, dass man eine Ableitungsfunktion - im Gegensatz zu einer Ableitungszahl - erneut auf Differenzierbarkeit überprüfen, also möglicherweise der Reihe nach die Funktionen erzeugen kann, so wird deutlich, dass mit der neuen Sichtweise auch eine neue Plattform gewonnen wurde.
Die mehrfache Differenzierbarkeit begrifflich exakt zu fassen, ist technisch etwas aufwändig und nur rekursiv möglich.
Definition: Es sei und . Eine Funktion heißt
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1-mal differenzierbar auf A falls f auf A differenzierbar ist. Die Funktion nennen wir die 1. Ableitung von f.
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(n + 1)-mal differenzierbar auf A falls f n-mal und die n-te Ableitung 1-mal differenzierbar auf A ist. Die Funktion nennen wir die (n + 1)-te Ableitung von f.
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[7.8.1] |
lesen wir als "f n" oder als "f oben n" und sprechen gelegentlich von als 0-ter Ableitung. Meist benutzen wir für kleine n die Schreibweise , usw.
bezeichne die Menge aller n-mal differenzierbaren Funktionen, kurz: -Funktionen, auf A.
Eine Funktion heißt n-mal stetig differenzierbar auf A, bzw. eine -Funktion, falls die n-te Ableitung stetig ist. Die Menge der -Funktionen bezeichnen wir mit dem Symbol .
Die -Funktionen, also die Funktionen aus
,
liegen in jedem . Sie sind daher beliebig oft differenzierbar.
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Beachte:
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Noch einmal zur Physik und ihrer speziellen Schreibweise (vgl. [7.3]): Bei mehrfach differenzierbaren Funktionen der Form benutzt man für die Ableitungen natürlich ebenfalls die Punktnotation , wobei die zweite Ableitung in der Regel durch das Symbol
a
i |
Der Buchstabe a stammt von acceleratio dem lateinischen Wort für Beschleunigung (engl. acceleration).
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ersetzt wird, , und als Beschleunigung zum Zeitpunkt t aufgefasst wird.
Der rekursive Charakter macht es oft mühselig, die höhere Differenzierbarkeit einer Funktion nachzuweisen. Die 4-malige Differenzierbarkeit etwa, folgt ja erst aus der 3-maligen, die wiederum die 2-malige voraussetzt usw. Wir zeigen dies am Beispiel der Kubikfunktion .
Da differenzierbar ist ([7.3.3]), erhalten wir mit der Faktorregel [7.7.10] die folgenden Ergebnisse:
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ist 1-mal differenzierbar und
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ist 2-mal differenzierbar und
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ist 3-mal differenzierbar und
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ist 4-mal differenzierbar und
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Die letzte Information macht deutlich, dass sogar eine -Funktion ist, deren Ableitungen ab der 4. Ordnung konstant 0 sind.
Um eine vorliegende Funktion f als z.B. 10-mal differenzierbar zu erkennen, hat man gemäß [7.8.1] zu zeigen, dass noch einmal differenzierbar ist. Vielleicht aber ist ist es bei dieser Funktion leichter, die 9-malige Differenzierbarkeit von nachzurechnen, oder auch die 3-malige von . Interessanterweise führen alle diese Varianten zum gleichen Ergebnis.
Bemerkung: Sei . Für gilt:
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[7.8.2] |
Ist f n-mal differenzierbar auf A, so ist .
Beweis per Induktion über n:
-
Für ist wegen der Bedingung nichts zu zeigen.
-
Sei nun die Äquivalenz [7.8.2] und die dort notierte Ableitungsformel bereits gültig. Wir müssen jetzt für zeigen:
sowie . Für ist dies direkt durch die Definition [7.8.1] gegeben, so dass wir im weiteren annehmen dürfen.
"" Sei , d.h. , mit . Nach Induktionsvoraussetzung ist und mit
.
Damit weiß man: und .
"" Sei jetzt , so dass . Nach Definition [7.8.1] bedeutet dies: und . Gemäß Induktionsvoraussetzung ist damit und , also: . Dies sichert .
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[7.8.2] benutzt man meist im Spezialfall :
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[7.8.3] |
wobei im Ableitungsfall die Berechnung zulässig ist.
Zwischen den einzelnen Differenzierbarkeitsklassen bestehen offensichtliche Teilmengenbeziehungen. So folgt etwa für unmittelbar aus [7.8.2]:
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[7.8.4] |
-
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[7.8.5] |
Und trivialerweise gilt:
-
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[7.8.6] |
Die folgende Bemerkung zeigt, dass es sich in allen Fällen um echte Teilmengen handelt.
Bemerkung: Für , gilt:
-
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[7.8.7] |
-
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[7.8.8] |
-
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[7.8.9] |
Beweis: Wir betrachten o.E. nur den Fall . Alle im folgenden konstruierten Funktionen arbeiten mit 0 als kritischer Stelle. Durch eine geeignete Verschiebung läßt sich solch eine kritische Stelle in einer beliebigen Menge A etablieren, so dass auch die allgemeine Situation erfasst werden kann.
Ferner beachte man, dass die in 2. konstruierte Funktion auch ein Gegenbeispiel zu 1. ist.
2. ► Zunächst betrachten wir für die Funktion
Nach Produktregel ([7.6.3], siehe auch [7.4.3] zur Ableitung der Betragsfunktion) ist in jedem differenzierbar mit
Die Differenzierbarkeit in 0 folgt aus
Also hat man:
und .
Wir kommen nun zum eigentlichen Beweis. Dabei dürfen uns auf den Fall beschänken und zeigen für per Induktion: gehört zu , aber nicht zu , also auch nicht zu .
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Sei . Nach unserer Vorüberlegung ist eine -Funktion, die mit keine -Funktion ist.
-
Nach Induktionvoraussetzung ist eine -, aber keine -Funktion. Das bedeutet nach [7.8.3]: ist eine -Funktion, die in
fehlt.
3. ► Die Behauptung beweisen wir per Induktion: Zu jedem n gibt es eine Funktion , deren n-te Ableitung unstetig ist.
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Die durch gegebene Funktion ist nach einem Beispiel in Teil 8 differenzierbar mit unstetiger Ableitung.
-
Sei mit unstetiger Ableitung . Da selbst stetig ist ([7.5.2]), gibt es nach [8.1.5] eine differenzierbare Funktion mit . Nach [7.8.3] ist dann mit unstetiger Ableitung .
Die Behauptung folgt direkt aus [7.8.8].
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Obwohl nach den bisherigen Überlegungen die kleinste Gruppe unter den differenzierbaren Funktionen darstellt, ist sie dennoch recht umfangreich. Interessant sind dabei die Grenzfunktionen konvergenter Potenzreihen: Wie nämlich Abschnitt 7.7. zeigt, sind ihre Ableitungsfunktionen wieder Grenzfunktionen konvergenter Potenzreihen. Dies bedeutet aber mit einem induktiven Argument: Solche Grenzfunktionen sind beliebig oft differenzierbar.
Da eine analytische Funktion lokal mit der Grenzfunktion einer konvergenten Potenzreihe übereinstimmt, können wir [7.8.9] ergänzen durch:
,
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[7.8.10] |
wobei auch diese Inklusion echt ist, denn in 9.12. konstruierten sog. -Hüte sind spezielle, von 0 verschiedene -Funktionen, die außerhalb eines abgeschlossenen Intervalls nur den Wert 0 annehmen, also nach dem Identitätssatz [5.12.13] nicht analytisch sein können.
Für die analytischen Funktionen exp, sin und cos etwa sind die Ableitungen leicht zu berechnen:
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|
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[7.8.11]
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[7.8.12]
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[7.8.13]
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Polynome, ebenfalls analytische Funktionen, haben ein interessantes Ableitungsverhalten: Bei jeder Ableitung eines Polynoms p verringert sich der Grad um eine Einheit, so dass zwangsweise ist. Es reicht, dies für Monome zu beweisen:
Bemerkung: Für alle ist
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[7.8.14] |
Beweis: Für kann man [7.8.14] sofort nachrechnen:
.
Für führen wir einen Induktionsbeweis über k:
-
Der Fall ist durch bewiesen.
-
Ist jetzt die Gleichung [7.8.14] für ein festes k bereits gültig, so hat man:
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Wir untersuchen nun die algebraischen Eigenschaften der verschiedenen Differenzierbarkeitsklassen. Entscheidend ist dabei die Frage, ob sich die Ableitungsregeln übertragen lassen. Für die Summen- und Differenzregel ist dies einfach.
Bemerkung: Für alle gilt:
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und
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[7.8.15] |
-
und
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[7.8.16] |
-
und
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[7.8.17] |
Beweis: Es ist jeweils ein Induktionsbeweis erforderlich. Der Induktionsanfang () ist dabei durch [7.7.4-6] bereits gesichert. Den Induktionsschluss führen wir nur für die erste Aussage durch.
Seien dazu gegeben, d.h. wir haben: und . Nach Induktionsvoraussetzung ist damit und
nach Summenregel [7.7.4]
Folgt: mit
.
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Während sich die Quotienten- und die Kettenregel als zu sperrig für unsere Überlegungen erweisen, ist die Produktregel recht gut für höhere Ableitungsordnungen zu formulieren. Verblüffenderweise läßt sich diese naturgemäß etwas komplexere Regel, die sog. Leibnizregel, leicht merken, wenn man das allgemeine Binomialtheorem kennt.
Bemerkung (Leibnizregel): Für alle gilt: und
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[7.8.18] |
Beweis: Wir führen einen Induktionsbeweis.
-
Der Induktionsanfang ist die Produktregel, denn nach [7.7.6] ist mit auch eine -Funktion und (man beachte, dass die beiden Binomialkoeffizienten den Wert 1 haben):
-
Sei die Leibnizregel für ein festes n bereits gültig. Sind nun f und g zwei -Funktionen, also
und für alle ,
so ist nach Induktionsvoraussetzung eine -Funktion deren n-te Ableitung
nach Produkt- und Summenregel wieder differenzierbar ist. Also weiß man: . Bei der Berechnung der letzten Ableitung benutzen wir die Induktionsvoraussetzung, den Trick "Indexverschiebung" und eine Additionseigenschaft der Binomialkoeffizienten:
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Mit diesen Ergebnissen können wir also die am Schluss von 7.7. notierten Gruppen und Ringe als Spezialfälle einer allgemeineren Situation auffassen:
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, und sind
ablesche Gruppen
i |
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Die Addition + ist assoziativ und kommutativ.
-
0 ist das neutrale Element, d.h. für alle f.
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Jedes f besitzt genau ein inverses Element, hier , so dass ist.
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.
-
, und sind
kommutative Ringe mit Einselement
i |
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Es gelten die Axiome einer abelschen Gruppe.
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Die Multiplikation · ist assoziativ und kommutativ.
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· ist distributiv bzgl. +.
-
1 ist das neutrale Element der Multiplikation, d.h. für alle f.
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.
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