8.1. Stammfunktionen
In der Differentialrechnung haben wir zu einer differenzierbaren Funktion die Ableitung berechnet. In diesem Kapitel untersuchen wir die Umkehrbarkeit dieses Prozesses, d.h. wir fragen, ob eine vorgelegte Funktion die Ableitung einer differenzierbaren Funktion ist, und ob wir möglicherweise eine solche "Herkunftsfunktion" ermitteln können.
Wir beginnen mit den grundlegenden Begriffen dieses Abschnitts:
Definition: Es sei und eine beliebige Funktion. Eine differenzierbare Funktion heißt eine Stammfunktion zu f, falls
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[8.1.1] |
Besitzt f eine Stammfunktion, so nennen wir f
integrierbar.
i |
genauer: stammfunktionen-integrierbar, denn neben der hier eingeführten gibt es weitere Integrationsmethoden. So kann eine Funktion etwa
riemann-integrierbar oder lebesgue-integrierbar sein.
Zwar sind alle diese Integrationsarten nicht äquivalent, aber viele Funktionen erfüllen mehrere Integrationsbedingungen gleichzeitig und die dazu gehörenden Integrale (werden im nächsten Abschnitt eingeführt) stimmen in diesen Fällen überein.
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(auf A) Mit dem Symbol bezeichnen wir die Menge aller integrierbaren Funktionen auf A.
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Beachte:
Eine Funktion f ist also genau dann integrierbar, wenn sie als Ableitung einer anderen (differenzierbaren!) Funktion auftritt. f selbst muss nicht differenzierbar sein.
Die Gleichung kann man jetzt auf zwei Arten lesen:
f ist die Ableitung von g.
g ist eine Stammfunktion zu f
Ob g eine Stammfunktion zu f ist, läßt sich durch bloßes Ableiten überprüfen.
Ist , so ist A der Definitionsbereich einer differenzierbaren Funktion. Jedes ist daher ein
Häufungspunkt
i |
d.h. es gibt eine Folge in A so dass . Dies sichert i.w. die Eindeutigkeit der Ableitungszahlen . Details zu dieser Situation findet man in [7.3.1] sowie [6.8.2].
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von A. Die Funktionenmenge ist also leer, falls A nicht aus lauter Häufungspunkten besteht.
Beispiel:
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X ist eine Stammfunktion zu 1, denn: .
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ist eine Stammfunktion zu 2X, denn: .
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−cos ist eine Stammfunktion zu , denn: .
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ist eine Stammfunktion zu , denn: .
-
ist eine Stammfunktion zu , denn: .
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Diese Beispielliste läßt sich mühelos weiterführen, solange man eine Funktion vorgibt, die man als Ableitung in Erinnerung hat. Bei vielen Funktionen allerdings, wie etwa bei X·sin, ist dies nicht der Fall. Die Suche nach einer Stammfunktion kann sich dabei durchaus als ein schwieriges Problem erweisen.
Die beiden letzten Beispiele belegen, dass eine Funktion durchaus mehrere Stammfunktionen besitzen kann. Der Ausdruck die Stammfunktion zu f, ist also unzulässig; korrekt ist: eine Stammfunktion zu f.
Allerdings lassen sich, falls A ein Intervall ist, die verschiedenen Stammfunktionen leicht überblicken. Ferner läßt sich eine gewisse Eindeutigkeit erreichen, wenn man einen Funktionswert vorgibt.
Bemerkung: Ist I ein Intervall, so gilt für jedes :
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Sind und zwei Stammfunktionen zu f, so gibt es ein , so dass
.
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[8.1.2] |
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Ist , so gibt es zu jedem genau eine Stammfunktion g zu f mit
.
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[8.1.3] |
Beweis:
1. ► Für die auf I differenzierbare Funktion hat man: . Nach einer Folgerung aus dem Mittelwertsatz [7.9.7] ist daher konstant, es gibt also ein , so dass . D.h. aber: .
2. ► Da f integrierbar ist, gibt es zunächst überhaupt eine Stammfunktion g zu f; dann aber ist eine Stammfunktion der geforderten Art.
Sei nun h eine weitere Stammfunktion dieser Art. Nach 1. unterscheiden sich g und h nur durch eine additive Konstante, etwa: . Für den Punkt a bedeutet dies
.
Also hat man und damit .
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Über die Eindeutigkeit von Stammfunktionen gibt die obige Bemerkung eine zufrieden stellende Auskunft. Zu beantworten bleibt noch die Frage nach der Existenz von Stammfunktionen, die Frage also, ob es zu jeder Funktion f überhaupt eine Stammfunktion gibt.
Zunächst zeigen wir, dass nicht jede Funktion eine Stammfunktion besitzt. Die Frage nach der Integrierbarkeit einer Funktion ist also nicht unsinnig.
Bemerkung: Die Funktion gegeben durch
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[8.1.4] |
ist nicht integrierbar.
Beweis: Wir zeigen, dass f keine Stammfunktion besitzt und gehen dazu indirekt vor: Angenommen es gibt eine differenzierbare Funktion mit
.
g ist insbesondere eine differenzierbare Funktion auf dem Intervall mit . Also ist g hier konstant (siehe [7.9.7]), d.h. es gibt ein c, so dass
.
Und da g als differenzierbare Funktion stetig ist, kann der noch fehlende Wert folgendermaßen errechnet werden:
Also ist für alle x, so dass wir den Widerspruch erhalten.
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Mit der nächsten Bemerkung sichern wir nun die Integrierbarkeit der stetigen Funktionen, zumindest auf Intervallen. Eine äquivalente Charakterisierung der Integrierbarkeit ist damit leider nicht gegeben, denn es gibt
Beispiele
i |
wie etwa die durch
gegebene Funktion g. Beweis:
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integrierbarer Funktionen, die nicht stetig sind.
Satz: Ist I ein Intervall, so besitzt jede auf I stetige Funktion dort eine Stammfunktion. Es gilt also:
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[8.1.5] |
Beweis:
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Die im Beweis zu [8.1.5] benutzte Konstruktion ist für die konkrete Ermittlung von Stammfunktionen nicht geeignet. In vielen Fällen wird man daher zwar wissen, dass f eine Stammfunktion besitzt, aber nicht welche! Die Suche nach konstruktiven Verfahren ist also lohnenswert. Für Polynomquotienten liegt mit der sog. Partialbruchzerlegung eine solche Methode vor.
Wir suchen nun nach Rechenregeln für Stammfunktionen. Dabei zeigt sich, dass die Ableitungsregeln, die für eine reichhaltige algebraische Struktur der Menge der differenzierbaren Funktionen sorgten, auch hier ähnliche Ergebnisse liefern. Wir übertragen zunächst die Summen-, die Differenz- und die Faktorregel.
Bemerkung: Sind Stammfunktionen zu und , so ist
und eine Stammfunktion zu .
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[8.1.6] |
und eine Stammfunktion zu .
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[8.1.7] |
und eine Stammfunktion zu .
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[8.1.8] |
Beweis:
1. ► Für die differenzierbaren Funktionen und gilt gemäß Summenregel ([7.7.4]): ist differenzierbar und . ist also eine Stammfunktion zu .
2. und 3. ► führen wir in ähnlicher Weise auf die entsprechenden Ableitungsregeln zurück.
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Von den Rechenregeln kann man natürlich erst dann effektiv Gebrauch machen, wenn man zu einigen Grundfunktionen auch Stammfunktionen kennt. Neben den im ersten Beispiel betrachteten Funktionen sin und cos werden dies vor allen Dingen die Potenzfunktionen sein.
Bemerkung: Für jedes , ist
eine Stammfunktion zu .
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[8.1.9] |
Beweis: Die Funktion ist differenzierbar und .
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Beachte:
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Zusammen mit den Rechenregeln stellt [8.1.9] die Integrierbarkeit der Polynome sicher. Dabei darf man summandenweise integrieren, d.h.: Ist ein Polynom, so ist
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[8.1.10] |
eine Stammfunktion zu p.
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Insbesondere ist also eine Stammfunktion zu c.
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[8.1.9] weist der Kehrwertfunktion keine Stammfunktion zu!
Beispiel:
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hat als eine Stammfunktion.
-
hat als eine Stammfunktion.
-
hat als eine Stammfunktion.
-
hat als eine Stammfunktion.
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Die Übertragung weiterer Ableitungsregeln ist deutlich aufwändiger. Für die Produkt- und die Kettenregel reservieren wir dafür einen eigenen Abschnitt. Die beiden folgenden Spezialfälle der Ketten- bzw. Quotientenregel sind jedoch leicht nachzuweisen und oftmals erfolgreich einzusetzen.
Bemerkung: Ist differenzierbar, so ist
und eine Stammfunktion zu .
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[8.1.11] |
und eine Stammfunktion zu .
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[8.1.12] |
Beweis:
1. ► Nach einem Spezialfall der Kettenregel ([7.7.12]) ist mit f ist auch differenzierbar und
.
2. ► Gemäß Kehrwertregel ([7.7.11]) ist mit f auch differenzierbar und .
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Zur Anwendung dieser beiden Regeln benötigt man allerdings ein gewisses Augenmaß, denn man muß ja, etwa für die erste Regel, einer vorgelegten Funktion ansehen, dass sie das Produkt einer Funktion und ihrer eigenen Ableitung ist.
Beispiel:
hat in eine Stammfunktion, denn .
hat in eine Stammfunktion, denn .
Aufgaben:
ist eine Stammfunktion zu .
ist eine Stammfunktion zu .
Für eine differenzierbare Funktion ist eine Stammfunktion zu .
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Ein sehr nützliches online-Hilfsmittel zur Berechnung von Stammfunktionen ist der Integrator von Mathematica. Er liefert zu (fast) allen integrierbaren Funktionen eine Stammfunktion per Mausklick! Um die dort benutzte Schreibtechnik zu verstehen, sollte man den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung aus dem nächsten Abschnitt gelesen haben.
Analog zum
Verkleben
i |
Für und mit für alle ist
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stetiger und differenzierbarer Funktionen untersuchen wir nun, ob sich integrierbare Funktionen auch integrierbar verkleben lassen. Vorbereitend fragen wir nach der Einschränkungstreue der Integrierbarkeit.
Bemerkung: Es sei , so dass jedes ein Häufungspunkt von A ist. Ist integrierbar auf B und eine Stammfunktion zu f, so ist
integrierbar auf A
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[8.1.13] |
Dabei ist eine Stammfunktion zu . Die Umkehrung von [1.8.13] ist i.A. falsch.
Beweis: Als Stammfunktion zu f ist g differenzierbar mit . Nach [7.4.1] ist damit in jedem differenzierbar und
Also ist ist eine Stammfunktion zu .
Die nicht integrierbare Funktion f aus dem Beispiel [8.1.4] besitzt eine integrierbare Einschränkung .
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Für das Verkleben integrierbarer Funktionen auf Intervallen erhalten wir jetzt eine überraschend einfache Äquivalenz.
Bemerkung: und seien zwei Intervalle mit nicht-leerem Schnitt, also . Sind und zwei Funktionen mit , so gilt:
ist integrierbar und sind integrierbar.
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[8.1.14] |
Beweis:
"": Ist g eine Stammfunktion zu , so ist nach [8.1.13] eine Stammfunktion zu .
"": Zunächst beachte man, dass es für den nicht-leeren Schnitt der beiden Intervalle nur zwei Möglichkeiten gibt:
Der Schnitt ist einpunktig:
Der Schnitt ist wieder Intervall
Sei nun eine Stammfunktion zu . Wir zeigen: Es gibt eine Stammfunktion zu , so dass
[1]
und berücksichtigen dabei die beiden oben notierten Fälle. Der erste Fall ist schnell erledigt, denn nach [8.1.3] gibt es eine Stammfunktion zu mit .
Im zweiten Fall betrachten wir zunächst irgendeine Stammfunktion g zu . Nach [8.1.13] sind dann und zwei Stammfunktionen zu , so dass es gemäß [8.1.2] ein c gibt mit
.
ist daher eine Stammfunktion zu , die [1] erfüllt.
Da und stetig sind, läßt sich die Identität [1] auch auf zu gehörende Häufungspunkte von I ausdehnen, so dass wir im folgenden annehmen dürfen I enthalte bereits alle Häufungspunkte dieser Art.
Mit ist jetzt eine Stammfunktion zu gegeben, denn nach [7.4.5] ist in jedem differenzierbar mit
als Ableitung. Ist nun , etwa , so ist nach unserer Vorüberlegung x kein Häufungspunkt von I. Es gibt daher eine relative ε-Umgebung mit . Also ist . Da nach [7.4.2] die Differenzierbarkeit lokal geprüft werden darf, hat man damit: ist in x differenzierbar mit
.
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So hat etwa die Betragsfunktion, als Verklebung der stetigen Funktionen und , eine Stammfunktion, die durch Verkleben der einzelnen Stammfunktionen und , die am Überlappungspunkt 0 bereits übereinstimmen, gewonnen werden kann:
Als ein weiteres Beispiel betrachten wir für ein beliebiges die Funktion
[2]
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und sind als stetige Funktionen auf einem Intervall integrierbar und haben an der Überlappungsstelle den gemeinsamen Wert 0. Jedes besitzt daher eine Stammfunktion.
Interessanterweise konvergiert die Funktionenfolge punktweise gegen die nicht integrierbare Funktion f aus [8.1.4], denn für hat man und für jedes ist . Das Beispiel [2] zeigt also, dass die punktweise Konvergenz mit der Integrierbarkeit nicht verträglich ist. Die gleichmäßige Konvergenz dagegen erweist sich als integrierbarkeitstreu.
Bemerkung: sei eine Folge integrierbarer Funktionen auf einem Intervall I, also für alle n, und eine beliebige Funktion. Dann gilt:
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[8.1.15] |
Beweis: Nach Voraussetzung gibt es für jedes n eine Stammfunktion zu , eine differenzierbare Funktion also mit . Dabei darf man gemäß [8.1.3] für ein festes annehmen, dass . Da gilt dies erst recht für jedes abgeschlossene Teilintervall :
Nach [7.12.3] existiert daher der punktweise Limes und ist eine Stammfunktion zu f.
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Beachte:
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Der Beweis zu [8.1.15] läßt erkennen, dass man die Bedingung auch durch die schwächere
für alle abgeschlossenen Teilintervalle
ersetzen darf.
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