8.11. Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung
In diesem Abschnitt verallgemeinern wir das Stammfunktionenproblem. Die Aufgabe, zu einer vorgegebenen Funktion g eine Stammfunktion f zu finden, formulieren wir dazu neu: Löse die (Funktionen-)gleichung
.
Die Unbekannte ist jetzt eine Funktion, die mit ihrer 1. Ableitung in der Gleichung auftritt.
Gleichungen dieser Art heißen Differentialgleichungen.
Wir beginnen unsere Untersuchungen mit Differentialgleichungen des folgenden Typs:
Definition: Ist eine Funktion und , so nennen wir die Gleichung
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[8.11.1] |
eine (normierte) lineare Differentialgleichung 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten (über ).
Unter einer Lösung dieser Gleichung verstehen wir eine auf differenzierbare Funktion f, also , die die Gleichung [8.11.1] erfüllt.
Ist speziell die rechte Seite , so nennt man die Gleichung [8.11.1] homogen.
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Beachte: Unsere Gleichungen
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sind normiert, weil den Koeffizienten 1 besitzt. Das ist aber keine Einschränkung, denn jede allgemeine Gleichung läßt sich im Fall per Division durch m stets normieren. Falls , liegt gar keine Differentialgleichung vor.
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sind linear, weil die Unbekannte f und ihre Ableitung weder in einem Produkt noch in einer Potenz vorkommen.
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sind von 1. Ordnung, weil f in ihnen nur bis zur ersten Ableitung auftritt.
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haben konstante Koeffizienten, weil der (hier einzige) Koeffizient a konstant ist. Allgemeine Differentialgleichungen erlauben auch Funktionen als Koeffizienten.
Für beschreibt die Gleichung [8.11.1] offenbar das alte Stammfunktionenproblem.
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betrachten wir als Differentialgleichungen über . Alle Ergebnisse lassen sich i.w. aber auch für ein beliebiges Intervall formulieren und beweisen.
Beim Lösen von Differentialgleichungen sind drei Problemkreise angesprochen:
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Das Existenzproblem:
Gibt es zu jeder rechten Seite g eine Lösung?
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Das Eindeutigkeitsproblem:
Kann es zu einem g mehrere Lösungen geben?
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Das Regularitätsproblem:
Wenn g mehrfach differenzierbar ist, sind dann auch die Lösungen mehrfach differenzierbar?
Bereits von den Stammfunktionen her wissen wir, dass 1. und 2. nicht positiv zu beantworten sind. Bei der Wahl der rechten Seite g wird man also eingeschränkt sein. Die Eindeutigkeit werden wir, wie bei den Stammfunktionen auch, durch eine Zusatzbedingung, die sog. Anfangsbedingung, erzwingen.
Zunächst lösen wir das Existenz- und das Eindeutigkeitsproblem für homogene Differentialgleichungen, und zwar i.w. bereits durch die folgende Bemerkung.
Bemerkung: Für jede -Funktion f gilt:
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[8.11.2] |
Beweis:
"": Wir arbeiten mit einem kleinen Trick und berechnen zunächst die Ableitung der differenzierbaren Funktion gemäß Quotienten- und Kettenregel:
.
Nach [7.9.7], einer Folgerung aus dem Mittelwertsatz, ist damit die auf dem Intervall definierte Funktion konstant: . Folgt:
.
Offensichtlich ist dabei .
"": Ist , so hat man:
.
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Beachte: Das Ergebnis läßt sich auch in der Sprache der linearen Algebra notieren.
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Die Lösungsmenge der Gleichung besteht nach [8.11.2] aus allen Vielfachen von , ist also gleich dem Erzeugnis von :
.
Sie ist damit ein Untervektorraum von , und zwar der Dimension 1, da linear unabhängig ist.
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Führt man den linearen Differentialoperator durch die Festsetzung
ein, so ist gerade der Kern von . Man beachte überdies, dass hier die Nullstelle des Polynoms ist.
[8.11.2] belegt, dass eine homogene Differentialgleichung unendliche viele Lösungen besitzt. Die angestrebte Eindeutigkeit erhalten wir nun durch die zusätzliche Forderung (Anfangsbedingung) .
Bemerkung: Für jedes hat die homogene Gleichung unter der Anfangsbedingung genau eine Lösung:
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[8.11.3] |
Beweis: Die Behauptung folgt direkt aus [8.11.2], und zwar über die Äquivalenz:
.
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Gelegentlich ist die Anfangsbedingung nicht für den Punkt 0 formuliert. [8.11.3] läßt sich jedoch in dieser Hinsicht leicht verallgemeinern, denn für beliebige gilt:
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[8.11.4] |
Beweis: Wir setzen die Verschiebungen und ein. Da gemäß Kettenregel die Gleichheit gegeben ist, kann man mit [8.11.3] folgendermaßen argumentieren:
Beispiel:
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Anwendungsbeispiele belegen die Bedeutung des Differentialgleichungen im naturwissenschaftlichen Bereich. Einige Beispiele zu Wachstumsprozessen geben hier einen ersten Eindruck.
Interessanterweise kann man das Lösungsverfahren für homogene Differentialgleichungen auch auf Gleichungen mit nicht-konstanten Koeffizienten übertragen. Der Beweis orientiert sich dabei an [8.11.2]. Man beachte in diesem Zusammenhang, dass eine Stammfunktion zur konstanten Funktion a ist.
Bemerkung: Ist s eine Stammfunktion zur integrierbaren Funktion und , so gilt für :
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[8.11.5] |
Beweis: ?
"": Da , ist die auf differenzierbare Funktion konstant. Es gibt also ein k, so dass
.
Aus folgt schließlich: .
"": Ist , so hat man:
und: .
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Da cos eine Stammfunktion zu und ist, haben wir mit
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ein Beispiel zu [8.11.5] notiert.
Wir wenden uns nun den inhomogenen Gleichungen zu. Wie zu Beginn bereits erwähnt, ist hier Wahl der rechten Seite g nicht beliebig. Zufriedenstellende Ergebniss erhalten wir allerdings, wenn die rechte Seite stetig ist. Ein Beispiel im Abschnitt über Stammfunktionen zeigt jedoch, dass auch ein unstetiges g zu einer lösbaren Differentialgleichung führen kann.
Die folgende Bemerkung ist eine direkte Parallele zu [8.11.2]. Auch sie löst i.w. bereits das Existenz- und das Eindeutigkeitsproblem. Wesentliches Hilfsmittel ist dabei das Faltungsprodukt [8.10.1].
Bemerkung: Für jede stetige Funktion gilt:
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[8.11.6] |
Beweis: Nach [8.10.9] ist , also:
. [1]
Damit können wir unsere Behauptung auf [8.11.2] zurück führen (beachte dabei auch [8.10.2]):
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Beachte:
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Nach [1] ist eine spezielle Lösung der inhomogenen Gleichung , denn sie erfüllt die Anfangsbedingung . [8.11.6] zeigt nun, dass man die gesamte Lösungsmenge von erhält, indem man die spezielle Lösung zu jeder Lösung der homogenen Gleichung addiert, also den 1-dimensionalen affinen Unterraum
von bildet. Dieser Begriff und seine Notation stammen aus der linearen Algebra.
Wie bereits im homogenen Fall erzwingen wir die Eindeutigkeit der Lösung auch hier über eine Anfangsbedingung.
Bemerkung: Für jedes und jede stetig Funktion g hat die inhomogene Gleichung unter der Anfangsbedingung genau eine Lösung:
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[8.11.7] |
Beweis: Ähnlich wie in [8.11.3] genügt hier ebenfalls der Hinweis auf die Äquivalenz
.
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Auch bei inhomogenen Gleichungen kann man die Anfangsbedingung durch die allgemeinere austauschen. Das Ergebnis läßt sich allerdings nicht mehr so kompakt notieren wie im homogenen Fall:
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[8.11.8] |
Beweis: Wir gehen wie im Beweis zu [8.11.4] vor und wenden dabei das Ergebnis [8.11.7] auf die stetige Funktion an:
Beispiele zu inhomogenen Differentialgleichungen sind natürlich ungleich aufwändiger, denn hier müssen Faltungsprodukte ermittelt werden.
Beispiel:
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Faltungsprodukt berechnen ►
i |
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Faltungsprodukt berechnen ►
i |
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Faltungsprodukt berechnen ►
i |
Wir integrieren zweimal partiell und erhalten zunächst:
Damit ergibt sich:
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Das zu Beginn erwähnte Regularitätsproblem beantworten wir jetzt positiv: Jede Lösung f ist um eine Differenzierbarkeitsklasse besser als die rechte Seite g.
Bemerkung: Ist f eine Lösung der Gleichung , so gilt für jedes :
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[8.11.9] |
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[8.11.10] |
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[8.11.11] |
Beweis: 3. ist eine direkte Folgerung aus 1. Die Aussagen 1. und 2. beweisen wir simultan per Induktion und beachten dabei die Gleichung
[2]
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"": Als Lösung der Differentialgleichung ist f differenzierbar. Ist nun g eine -Funktion, so trifft dies nach [2] auch auf zu, wobei
.
Insbesondere ist stetig, so dass auch stetig ist, falls g eine -Funktion ist. Also ist f eine -Funktion.
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"": Sei jetzt g eine -Funktion, also erst recht eine -Funktion. Gemäß Induktionsvoraussetzung ist f dann ()-mal (stetig) differenzierbar, wobei nach [2]
.
Damit aber ist gesichert, denn ist eine -Funktion.
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