Wir wenden uns nun verstärkt geometrischen Aspekten zu: In diesem Abschnitt
entwickeln wir Konzepte zur Längen- und zur Winkelmessung, im nächsten
Abschnitt wird das Prinzip des zu einander Senkrechtstehens, der Orthogonalität,
untersucht.
Zur Einführung geometrischer Begriffe benötigt man
allerdings zusätzliche Strukturen. Als eine einheitliche Grundlage erweisen
sich dabei die Skalarprodukte. Wir stellen sie zunächst vor.
Definition: Es sei ein Vektorraum. Eine
Funktion
heißt ein Sakalarprodukt (bzw. ein inneres Produkt) auf V,
falls
-
für alle .
-
für alle .
-
für alle .
-
für alle .
V heißt euklidischer Vektorraum, wenn auf V ein
Skalarprodukt gegeben ist. Wir notieren einen euklidischen Vektorraum als 4-Tupel: .
|
Beachte:
- ist also genau dann ein Skalarprodukt, wenn
-
kommutativ ist (Eigenschaft 1),
-
in der ersten Koordinate linear ist
(Eigenschaften 2 und 3),
-
positiv definit ist (Eigenschaft 4).
- Zur Einsparung von Klammern vereinbaren wir, dass das Skalarprodukt
stärker binden soll als Addition und Subtraktion, aber schwächer als die skalare
Multiplikation. 2. und 3. läßt sich
damit kürzer formulieren:
-
Wenn die Rechenoperationen und das Skalarprodukt festliegen, schreiben wir
meist V statt .
- Ist U Untervektorraum eines euklidischen Vektorraums , so ist auch ein Skalarprodukt auf U; ist also ebenfalls ein euklischer Raum.
Ein Skalarprodukt ist in beiden Koordinaten linear. Es ist daher breits eindeutig bestimmt, wenn man seine Werte auf
den Vektoren einer vorgegebenen Basis kennt. Umgekehrt läßt sich dieses Verhalten nutzen, um jeden
Vektorraum mit einem Skalarprodukt zu versehen, ihn also (auf mindestens eine
Weise) zu einem euklidischen Vektorraum zu machen.
Bemerkung und Bezeichnung: Es sei V ein Vektorraum, eine Basis von V
mit zugehöriger Koordinatentransformation .
Für jede Funktion wird durch die Festsetzung
ein Skalarprodukt auf V erklärt. Dabei gilt für
Basiselemente :
.
Setzt man abkürzend und , so lässt sich
die Definition übersichtlicher notieren:
.
Ist speziell , so nennt man das
Skalarprodukt das zu B gehörige Standardskalarprodukt. Beweis: Wesentliches
Argument ist (in 2. und 3.) die Linearität von .
.
.
Zu4.: Zu jedem gibt es ein , so dass . Da ferner für alle v hat man also:
.
Bleibt der Zusatz über die Basisvektoren.
Dabei beachte man zunächst, dass für den Koordinatenvektor eines gilt:
.
Damit ergibt sich
-
.
-
Und für :
.
|
Wir geben nun einige konkrete Beispiele für ein Skalarprodukt an.
Beispiel:
- In ist das in 9.9 eingeführte Skalarprodukt ein Skalarprodukt. ist somit euklidischer Vektorraum.
-
In ist durch
ein Skalarprodukt erklärt.
- In wird
durch die Festsetzung
ein Skalarprodukt erklärt.
-
Im Quotientenraum erklären wir ein Skalarprodukt über die Limesbildung:
Beweis: Zu b.: Die Kommutativität von ∗ ist offensichtlich. Zu den weiteren Eigenschaften:
ist also eine Summe von Quadraten und damit stets . Sei nun . Ist oder , so hat man sofort . Sind und
beide gleich 0, so muss sein und damit ist .
Zu c.:
Man beachte, dass ∗ wohldefiniert ist, denn mit und ist auch stetig, also über integrierbar. Die Kommutativität von ∗ ist offensichtlich. Die Linearität in den Koordinaten ergibt sich aus dem
Distributivgesetz und der Linearität des Integrals.
Bleibt, die positive
Definitheit zu zeigen. Sei dazu , . Also gibt es ein , so dass ist. Aus Stetigkeitsgründen ist dann in einer Umgebung
von y ungleich 0: es gibt daher ein Intervall , so dass und für alle . Da das Integrieren monoton ist, kann man nun
folgendermaßen abschätzen:
.
Zu d.: Zunächst stellen wir sicher, dass ∗ wohldefiniert ist. Ist etwa
so sind und Nullfolgen, was und sicherstellt. Also hat man:
.
|
Beachte:
-
aus a. ist das zur Standardbasis gehörige Standardskalarprodukt:
.
Man hat also insbesondere:
.
Wir werden im Folgenden den stets mit diesem Skalarprodukt versehen. Allerdings zeigt das Beispiel b. dass auch andere Skalarprodukte tragen kann.
- In ist das Standardskalarprodukt die gewöhnliche Multiplikation.
- ∗ in c. ist das klassische Skalarprodukt auf .
- Der Versuch das Skalarprodukt in d. "nur" auf und nicht auf dem
Quotientenraum einzuführen, also
zu setzen, scheitert (nur) an der positiven Definitheit: Zwar ist , aber .
Das nachfolgende allgemeine Beispiel ermöglicht es, Skalarprodukte zu
"importieren", also gewissermaßen eine euklidische Struktur von einem
Vektorraum auf einen anderen zu übertragen.
Beispiel und Bezeichnung: Es sei V ein
Vektorraum und W
ein euklidischer Vektorraum. Ist linear und injektiv (also ein injektiver Homomorphismus),
so wird durch
ein Skalarprodukt auf V definiert. heißt das durch f induzierte Skalarprodukt auf V.
Beweis:
-
.
-
.
-
.
-
Ist , so ist wegen der Injektivität von f auch . Daraus folgt: .
|
Aus den definierenden Eingenschaften des Skalarprodukts ergben sich weitere:
Bemerkung: Es sei V ein euklidischer
Vektorraum. Dann gilt für alle und :
-
-
-
-
-
-
I.a. gilt nicht:
Beweis:
Zu 1.: Mit der Kommutativität und der Linearität in der ersten
Koordinate von ∗ kann man wie folgt argumentieren:
.
Zu 2.: 2. wird wie gerade bewiesen.
Zu 3.: . Die zweite Gleichung folgt nun aus der Kommutativität.
Zu 4.: Wir zeigen nur die erste Gleichung (die zweite ergibt sich
wieder nach dem Schema zu 1.):
.
Zu 5.: .
Zu 6.: Z.B. ist in : .
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Euklidische Vektorräume ermöglichen die Einführung geometrischer
Strukturen. In diesem Abschnitt betrachten wir zwei grundlegende
Konzepte: die Längen- und die Winkelmessung.
Wir beginnen mit der
Längenmessung und orientieren uns dabei an den geometrischen Verhältnissen des .
Stellt man sich unter der Länge eines Vektors x die Länge
des durch x gegebenen Pfeils vor, so kann
man, etwa in ,
diese Länge über den Satz des Pythagoras errechnen:
.
|
|
Definition: Es sei V ein euklidischer
Vektorraum. Für setzen wir
.
Die Zahl heißt die Länge (bzw. die Norm) des Vektors v.
Ist , so nennen wir v einen Einheitsvektor.
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Beachte:
- Da das Skalarprodukt ∗ positiv definit ist, hat man stets: . Also ist die Länge wohldefiniert.
- Statt schreiben wir abkürzend auch , also auch . Damit hat man offensichtlich:
.
- Benutzt man den Ausdruck Norm von v, so ersetzt man das Symbol oft durch .
- In ist , so dass wir gemäß Pythagoras die Länge des Vektors x
als den Nullabstand des Punktes x im Koordinatensystem
interpretieren dürfen.
- In ist die Länge des Vektors x = (x) gleich dem Betrag der
Zahl x:
.
Beispiel: Wir berechnen die Längen einiger
Vektoren
- in :
-
.
-
.
- in :
-
.
-
.
-
in :
-
.
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Bemerkung: Es sei V ein euklidischer
Vektorraum. Dann gilt für alle und :
-
.
-
.
-
.
-
.
-
.("Cauchy-Schwarzsche Ungleichung")
-
.
-
.("Dreiecksungleichung")
-
.("Zweite Dreiecksungleichung")
-
.("Parallelogrammgesetz")
Beweis:
Zu 1.: Dies ist eine Eigenschaft der Wurzel: .
Zu 2.: Für diese "" Richtung benötigen wir ebenfalls eine Wurzeleigenschaft:
Ist nämlich , so ist , also hat man auch .
Die Richtung " " ergibt sich sofort
aus .
Zu 3.: Es reicht, die Gleichheit der Quadrate festzustellen:
.
Zu 4.: Die Behauptung folgt mit direkt aus 3.
Zu 5.: Für ist nichts zu zeigen; sei also . Der Beweis ist jetzt ein wenig
trickreich. Neben einigen Eigenschaften des Skalarprodukts benötigen wir
am Ende das Monotonieverhalten der Wurzelfunktion. Wir setzen nun und zeigen der
Reihe nach:
Zu 6.: "": Für ist wieder nichts zu zeigen; sei also . Wie im Beweis zu 4. errechnen wir:
Damit aber ist , also .
Die Sequenz v,w ist daher linear
abhängig.
"": Sei nun v,w
linear
abhängig, etwa .
Dann rechnet man der Reihe nach:
.
Zu 7.: Wir betrachten wieder nur die Quadrate:
Zu 8.: Die Behauptung folgt sofort aus .
Zu 9.: .
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Bemerkung und Bezeichnung: Es sei V ein
euklidischer Vektorraum, . Ist , so setzt man
.
heißt der zu v gehörige Einheitsvektor. Dabei gilt:
-
.
-
.
Beweis:
Zu 1.:
.
Zu 2.: Die Gleichheit folgt mit aus einer elementaren Gesetzmäßigkeit für
Erzeugnisse.
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Direkt verbunden mit dem Längenbegriff ist das Konzept der Abstandsmessung.
Die folgende Definition orientiert sich an den Verhältnissen des . Hier repräsentiert der Vektor die Nebendiagonale des von x und y
aufgespannten Prallelogramms; seine Länge mißt also die Entfernung zwischen
den Punkten x und y.
Definition: Es sei V ein euklidischer
Vektorraum. Für heißt die Zahl
Abstand von v zu
w.
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Bemerkung: In einem euklidischen Vektorraum V gilt für alle :
-
.
-
.
-
.
-
.
Beweis: Alle Punkte werden auf die entsprechenden Eigenschaften der
Länge zurückgeführt. 2. ist offensichtlich richtig.
Zu 1.: .
Zu 3.: .
Zu 4.: .
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Die Existenz eines Abstandsbegriffs eröffnet für euklidische Vektorräume eine
völlig neue Perspektive: Grundprinzipien der reellen Analysis lassen sich in
geeigneter Weise auf euklidische Vektorräume übertragen! Dieses Konzept soll
am Beispiel der Konvergenz vorgestellt werden.
Definition: Es sei V ein euklidischer
Vektorraum eine Folge in V und .
- Wir sagen konvergiert gegen v
(in Zeichen: ), falls es zu jedem ein gibt, so dass
.
Falls , so nennen wir konvergent und v
einen Grenzwert (oder Limes) von .
-
heißt Cauchy-Folge, falls es zu jedem ein gibt, so dass
.
- V heißt vollständig, falls jede Cauchy-Folge
konvergiert.
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Bemerkung: V sei ein euklidischer Vektorraum.
Dann gilt:
- Jede Folge in V hat höchstens einen
Grenzwert.
- Jede konvegente Folge ist eine Cauchy-Folge.
-
.
Beweis:
Zu 1.: Angenommen v und v' sind zwei verschiedene
Grenzwerte von . Dann gibt es zu jedem ein n, so dass
Zu 2.: Sei konvergent gegen v und vorgegeben. Dann gibt es ein , so dass für alle .
Damit hat man für :
.
Zu 3.: Ist vorgegeben, so gibt es , so dass
Für alle gilt damit:
.
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Beachte:
- In ist der neue Konvergenzbegriff stark an den alten gekoppelt. Hier nämlich läßt
sich die Konvergenz durch die koordinatenweise Konvergenz ersetzen:
.
Denn wegen kann man folgendermaßen argumentieren:
- "": Ist für alle , so gilt für diese n und für jedes : .
-
"": Ist für jedes und für alle , so gilt für diese n: .
Auch für das zweite geometrische Grundkonzept, die Winkelmessung,
lassen wir uns durch die Verhältnisse im motivieren. Betrachtet man etwa zwei Einheitsvektoren ,
so lässt sich der Kosinus des Winkel zwischen diesen Vektoren elementargeometrisch am Einheitskreis ermitteln.
Nach der Skizze ist der Winkel zwischen x
und y.
Seinen Kosinus können wir mit Hilfe des Additionstheorems
berechnen:
|
|
Diese Beziehung kann man nun leicht auf beliebige Skalarprodukte
verallgemeinern:
Definition: Ist V ein euklidischer Vektorraum,
so heißt für die Zahl
das Winkelmaß zwischen v und w.
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Beachte:
-
Die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung garantiert
, somit ist die Zahl wohldefiniert.
- Durch Umstellen der Definitionsgleichung für das Winkelmaß erhält man
eine alternative Darstellung für das Skalarprodukt:
.
- Einen Winkel zwischen v und 0 definieren wir nicht.
- In ist das Bogenmaß des von den Vektoren x und y
gebildeten Winkels.
Beispiel:
- in :
-
.
-
.
- in :
-
.
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Bemerkung: Es sei V ein euklidischer Vektorraum, . Dann gilt für :
-
.
-
.
-
.
-
.
Beweis:
Zu 1.:
.
Zu 2.:
.
Zu 3.:
.
Zu 4.: Die erste Gleichung folgt aus 3., die zweite direkt aus
der Definition.
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Wir ziehen nun Abbildungen zwischen euklidischen Vektorräume mit in unsere
Betrachtungen ein. Diejenigen unter ihnen, die die geometrischen
Zusatzeigenschaften respektieren zeichnen wir durch einen Namen aus.
Definition: V und W
seien zwei euklidische Vektorräume. Eine Funktion heißt
längentreu, falls für alle .
abstandstreu, falls für alle .
winkeltreu, falls für alle . |
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Beispiel:
- Jede Translation , also ,
ist abstandstreu, aber (für )
nicht längentreu, denn:
, und z.B. .
- Jede Streckung , also ist für winkeltreu, aber (für ) nicht längentreu, denn:
Mit v,w sind auch ungleich 0 und:
.
Ferner ist für und : .
- In ist die Drehung (Rotation)
um einen bliebigen Winkel längen-, winkel- und abstandstreu, denn:
Wegen der Längentreue hat man zunächst für ein : .
Ferner reicht es, wieder wegen der Längentreue, die Gleichung nur für Einheitsvektoren x und y zu bestätigen. Dies ergibt sich nun direkt aus folgender Rechnung:
Die Abstandstreue folgt mit der nächsten Bemerkung aus der Längentreue.
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Bemerkung: Es sei eine lineare Abbildung zwischen zwei euklidischen Vektorräumen.
Dann gilt:
f ist längentreu f ist abstandstreu.
Beweis:
.
.
|
Die verschiedenen Treueeigenschaften sind mit der Hintereinanderausführung verträglich:
Bemerkung: U, V und W
seien drei euklidische Vektorräume und zwei Abbildungen, dann gilt:
- f und g längentreu längentreu.
- f und g abstandstreu abstandstreu.
- f und g winkeltreu winkeltreu.
Beweis: Für hat man:
Zu 1.: .
Zu 2.: .
Zu 3.: Zunächst hat man für ein .
Und weiter: für alle .
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