5.11. Konvergente Potenzreihen
In diesem Abschnitt verallgemeinern wir den Polynombegriff. Da ein Polynom die endliche Summe seiner Monome ist, liegt es nahe, unendliche Summen dieser Art, d.h. Funktionenreihen zu betrachten. Dies ist allerdings nur ein formaler Gedanke. Ob dadurch wieder eine Funktion, in die man reellen Zahlen einsetzen kann, gegeben ist, wird nur über Konvergenzbetrachtungen zu entscheiden sein.
Bei Polynomen lassen sich die Funktionswerte allein durch Addition und Multiplikation ermitteln; ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Bei ihren Verallgemeinerungen wird dies so elementar nicht mehr möglich sein. Ist man jedoch nur an Näherungswerten interessiert, so darf man sich wieder auf polynomiale Verhältnisse zurück ziehen.
Definition: Für jede Folge in und jedes nennen wir die Funktionenreihe
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[5.11.1] |
eine Potenzreihe mit Entwicklungspunkt a.
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Ist eine Potenzreihe, so erhält man für jedes
durch Einsetzen die Zahlenreihe
Für den Entwicklungspunkt a ist diese Reihe immer konvergent:
. Interessant sind nun solche Potenzreihen, die in mindestens einem weiteren Punkt konvergieren.
Definition: Wir nennen eine Potenzreihe konvergent, wenn sie in mindestens zwei Punkten konvergiert, wenn es also ein gibt, so dass
konvergent ist.
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[5.11.2] |
Potenzreihen, die nur in ihrem Entwicklungspunkt konvergieren, heißen divergent.
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Überraschenderweise zieht die Konvergenz in nur einem weiteren Punkt die Konvergenz in einer ganzen Umgebung von a nach sich.
Bemerkung: Konvergiert die Potenzreihe in einem , so konvergiert sie (sogar absolut) in jedem
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[5.11.3] |
Beweis: Da die Reihe konvergiert, ist nach [5.9.9] die Folge eine Nullfolge, also insbesondere beschränkt. Es gibt also ein c, so dass
Dies erlaubt für alle i die Abschätzung
.
Aus folgt , so dass die geometrische Reihe eine konvergente Majorante zu ist, deren Konvergenz daher nach dem Majorantenkriterium [5.9.15] gesichert ist.
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Konvergente Potenzreihen konvergieren also niemals nur in isolierten Punkten, sondern mindestens in einem offenen Intervall. Die folgende Definition liefert die Einzelheiten.
Definition: Ist eine Potenzreihe, so nennen wir die Zahl
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[5.11.4] |
ihren Konvergenzradius (dabei lassen wir auch den Wert *) zu); für nennen wir das offene Intervall
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[5.11.5] |
ihren Konvergenzbereich.
___________
*) Wir setzen: und für jedes reelle c:
.
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Beachte:
ist divergent.
hat ganz als Konvergenzbereich.
-
ist divergent.
Die in [5.11.4] gegebene Definition ist für die praktische Berechnung des Konvergenzradius r oft ungünstig. Andere Charakterisierungen von r sind daher von Vorteil.
Bemerkung: Es sei eine Potenzreihe mit Konvergenzradius r. Sind alle Koeffizienten , so gilt:
-
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[5.11.6] |
-
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[5.11.7] |
Beweis: Wir setzen mehrfach das Quotientenkriterium [5.9.16] ein und berechnen daher für :
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[0] |
1. ►
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Mit
ist für jedes x auch eine Nullfolge. Also gibt es ein , so dass . Nach Quotientenkriterium konvergiert die Potenzreihe daher in jedem .
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2. ►
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Wir setzen zur Abkürzung und zeigen nun:
: Ist nämlich , so gibt es ein , so dass (beachte: )
für alle . Für diese i ist daher und (mit einem Induktionsargument)
.
ist also keine Nullfolge, daher nicht konvergent. Wäre nun , so müsste es ein x mit geben, in dem die Potenzreihe konvergiert. Dies ist aber nach unserer Überlegung nicht möglich.
-
: Ist , so wähle man zwei Zahlen mit . Man findet ein , so dass
für alle . Für diese i schätzen wir nun ab:
.
Mit [0] folgt daher die Konvergenz der Potenzreihe in aus dem Quotientenkriterium. Wäre jetzt , so wähle man ein x mit , also ein x außerhalb des Konvergenzbereichs in dem die Potenzreihe konvergiert.
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Beachte:
Da die Konvergenz einer Reihe nicht von ihren ersten Gliedern abhängt, gilt dieses Kriterium auch dann, wenn die Bedingung nur für fast alle i erfüllt ist.
Eine weitere Berechnungsmöglichkeit für r, die Formel von Hadamard, ergibt sich aus dem Wurzelkriterium [5.9.17]. Wir zitieren sie ohne Beweis:
Ist die Folge
beschränkt, so besitzt sie einen größten Häufungspunkt, den sog. limes superior (in Zeichen ). Für den Konvergenzradius gilt dann:
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[5.11.8] |
Ist unbeschränkt, so ist .
Bemerkung und Bezeichnung: Eine konvergente Potenzreihe konvergiert (absolut) in jedem Punkt x ihres Konvergenzbereichs. Die von ihr erzeugte Funktion
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[5.11.9] |
nennen wir ihre Grenzfunktion und bezeichnen sie mit dem Symbol .
Beweis: Ist , also , so muss von einem Element der Menge übertroffen werden, deren Supremum r ist. Es gibt also ein y in dem konvergiert, so dass
.
Nach [5.11.3] ist daher in x absolut konvergent.
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Beachte:
Die Verhältnisse an den Rändern des Konvergenzbereichs sind nicht einheitlich zu beschreiben. Für die Potenzreihe (mit Entwicklungspunkt 0) etwa errechnet man nach [5.11.7] den Konvergenzradius zu
.
konvergiert in (alternierende harmonische Reihe [5.9.12]), aber nicht in 1 (harmonische Reihe [5.9.6]).
-
Ist , so liegt im Konvergenzbereich . Daher ist die Reihe
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[5.11.10] |
absolut konvergent.
Beispiel:
ist eine Potenzreihe mit Entwicklungspunkt 1. Nach [5.11.7] hat sie den Konvergenzradius 1 und damit den Konvergenzbereich . Als Grenzfunktion erhält man über den Limes der geometrischen Reihe ([5.9.4]) die Einschränkung der Kehrwertfunktion auf , denn für ist der Abstand , also hat man:
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[5.11.11] |
Die Potenzreihen
,
,
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[5.11.12] |
mit Entwicklungspunkt 0 konvergieren nach [5.9.18], [5.9.19], [5.9.20] auf ganz . Ihre Grenzfunktionen sind exp, sin und cos.
Ist irgendein Polynom, so wird durch die Festsetzung , der Koeffizientensatz zu einer Folge erweitert. Die Potenzreihe konvergiert in ganz und die Grenzfunktion
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[5.11.13] |
stimmt mit p überein. Polymone sind also Grenzfunktionen spezieller Potenzreihen!
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Wir befassen uns nun mit den Eigenschaften konvergenter Potenzreihen. Zunächst gelingt es, den Identitätssatz für Polynome (siehe [4.5.*]) in geeigneter Weise auf konvergente Potenzreihen zu übertragen: Eine Grenzfunktion ist bereits dann die Nullfunktion wenn sie abzählbar viele (geeignete) Nullstellen besitzt!
Bemerkung (Identitätssatz für konvergente Potenzreihen): sei eine konvergente Potenzreihe und eine Folge in mit . Sind alle Folgenglieder Nullstellen der Grenzfunktion, so ist:
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[5.11.14] |
Beweis: Da , findet man ein positives , so dass . Nach [5.11.10] existiert der Grenzwert . Damit schätzen wir zunächst für alle x mit und alle folgendermaßen ab:
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[1] |
Wir beweisen nun [5.11.14] per Induktion:
-
Da alle Folgenglieder Nullstellen der Grenzfunktion sind, hat man mit in [1] für alle n:
Die Konvergenz erzwingt daher: .
-
Sei nun bereits . Wir benutzen [1] für und erhalten damit für alle n:
Die Gleichheit folgt nun nun wieder aus der Konvergenz .
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Beachte:
[5.11.14] benutzt man oft beim sog. Koeffizientenvergleich: Findet man zu zwei konvergenten Potenzreihen und eine Folge im Schnitt der Konvergenzbereiche mit , so dass für alle n, so sind die beiden Potenzreihen bereits identisch, d.h.
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[5.11.15] |
Beweis: Die Potenzreihe (siehe [5.11.17]) erfüllt die Bedingung in [5.11.14].
Die nächste Bemerkung bestätigt die Verträglichkeit der Konvergenz von Potenzreihen mit den vier Grundrechenarten.
Bemerkung: und seien zwei konvergente Potenzreihen mit den Konvergenzradien . Dann sind auch ihre Summe, ihre Differenz und ihr Produkt konvergente Potenzreihen. Für gilt darüber hinaus:
-
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[5.11.16] |
-
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[5.11.17] |
-
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[5.11.18] |
- Ist , so ist auch eine konvergente Potenzreihe.
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[5.11.19] |
Beweis: Da Reihen spezielle Folgen sind, erhält man 1., 2. und 3. aus den ersten drei Grenzwertsätzen [5.6.1] - [5.6.3].
In 4. reicht es, den Quotienten als konvergente Potenzreihe darzustellen. Dazu konstruieren wir zunächst eine Potenzreihe , so dass
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[2] |
Dies gelingt, wenn man Koeffizienten finden kann, so dass . Wir setzen daher rekursiv
und haben damit [2], denn:
-
-
Da , hat die Grenzfunktion im Entwicklungspunkt a einen Wert . Wir zeigen nun, dass dies auch in einer Umgebung von a so bleibt: Angenommen, zu jedem natürlichen gibt es ein mit , so dass . Da , folgt aus [5.11.14]: für alle k im Widerspruch zu .
Es gibt also eine Umgebung von a auf der die Grenzfunktion niemals den Wert 0 annimmt. Für alle x aus dieser Umgebung ist daher in [2] der 4. Grenzwertsatz anwendbar:
ist somit konvergent und stellt gemäß [2] den Kehrwert dar.
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Potenzreihen haben per Definition einen fest vorgewählten Entwicklungspunkt. Interessanterweise darf man ihn durch jeden Punkt des Konvergenzbereichs (lokal) austauschen. Der folgende Satz ist für weitere Überlegungen von großer technischer Bedeutung.
Bemerkung (Umordnungssatz): sei eine konvergente Potenzreihe, ihr Konvergenzradius. Dann gilt für alle : Es gibt eine konvergente Potenzreihe , so dass
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[5.11.20] |
Beweis: Man beachte zunächst, dass ist. Ferner hat man für alle
:
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[3] |
Für ein solches x motiviert die Rechnung (wir benutzen dabei das allgemeine Binomialtheorem [5.2.5])
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[4] |
die Betrachtung der Doppelreihe mit
Wegen [3] ist gemäß [5.11.10] die Reihe
konvergent. Die für alle gültige Abschätzung
belegt die Beschränktheit der Doppelreihe . Nach [5.10.26] darf man daher bei der Limesberechnung der Doppelreihe die Reihenfolge von Zeilen- und Spaltengrenzwert vertauschen, man hat also (beachte [3] und [4]):
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